Dann trat sie behutsam zwischen den Strahlen hindurch. Sie mied das Licht, als könnte sie sich daran verbrennen. Als sie mitten zwischen ihnen stand, setzte sie sich mit gekreuzten Beinen mir gegenüber auf den Boden. Was sie vorhin gesammelt hatte, hielt sie im Schoß. Ich konnte nur eine gestaltlose, dunkle Masse erkennen.
Felurian streckte die Hand aus, ergriff einen dünnen Strahl des Sternenlichts und zog ihn zu der dunklen Masse in ihrem Schoß.
Meine Überraschung wäre noch größer gewesen, hätte sie es nicht mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt getan. Im Dämmerlicht sah ich ihre Hände eine Bewegung machen, die mir vertraut vorkam. Dann streckte sie die Hand erneut aus und packte mit Daumen und Zeigefinger einen zweiten Strahl.
Sie zog ihn genauso mühelos wie den ersten zu sich und richtete ihn auf die dunkle Masse. Wieder kam mir die Bewegung bekannt vor, doch hätte ich nicht sagen können, woher.
Felurian begann leise vor sich hin zu summen, während sie den nächsten Strahl ergriff. Mit jedem Strahl fiel ein wenig mehr Licht auf den Gegenstand in ihrem Schoß. Er sah aus wie ein dickes schwarzes Tuch. Jetzt fiel mir auch ein, an wen Felurian mich erinnerte: an meinen Vater, wenn er nähte. Nähte sie im Licht der Sterne?
Sie nähte mit dem Licht der Sterne. Die Erkenntnis überkam mich ganz plötzlich.
Das klang abwegig. Doch Felurian nahm völlig unbekümmert den nächsten Strahl und zog ihn in ihren Schoß. Ich schob meine Zweifel beiseite. Nur ein Narr zweifelt an dem, was er mit eigenen Augen sieht.
Außerdem schienen über mir Sterne, die ich nicht kannte, und ich saß neben einer Märchengestalt, die seit tausend Jahren jung und schön war, die mein Herz mit einem Kuss anhalten und mit Schmetterlingen sprechen konnte. Warum sollte ich mir da wegen ein paar Lichtstrahlen Gedanken machen?
Nach einer Weile rückte ich näher an Felurian heran, um ihr besser zusehen zu können. Schließlich setzte ich mich neben sie, und sie lächelte und gab mir einen flüchtigen Kuss.
Ich stellte einige Fragen, aber ihre Antworten waren entweder unverständlich oder vollkommen desinteressiert. Von den Gesetzen der Sympathie, der Sygaldrie oder des Alar hatte sie keine Ahnung, und sie fand es überhaupt nicht merkwürdig, mit den Händen voll Schatten im Wald zu sitzen. Zuerst war ich gekränkt, dann wurde ich schrecklich eifersüchtig.
Ich dachte daran, wie ich in Felurians Laube den Namen des Windes gefunden hatte. Wie mir gewesen war, als sei ich zum ersten Mal ganz wach, und wie mich dieses Bewusstsein eiskalt durchströmt hatte.
Meine Laune besserte sich für einen Augenblick, dann empfand ich meinen Verlust nur umso deutlicher. Mein schlummernder Geist war wieder eingeschlafen. Ich wandte meine Aufmerksamkeit erneut Felurian zu und dem, was sie tat.
Wenig später stand sie auf und half auch mir auf die Beine. Heiter vor sich hin summend nahm sie meinen Arm, und wir kehrten auf dem Weg zurück, den wir gekommen waren, und plauderten dabei über verschiedene belanglose Dinge. Den dunklen Mantel aus Schatten hatte sie sich locker über den Arm gehängt.
Doch als dann der erste Schein des Dämmerlichts am Himmel aufzog, hängte sie ihn unsichtbar an die schwarzen Äste eines Baums. »manchmal geht es nur mit langsamer gewöhnung«, sagte sie. »der zarte schatten fürchtet die kerzenflamme. wie sollte es deinem noch ganz neuen
Kapitel 101
Auf Reichweite
Nach unserem Ausflug, bei dem dem wir Schatten gesammelt hatten, fragte ich gezielter nach Felurians magischen Fähigkeiten. Sie antwortete mir auch jetzt meist völlig gleichgültig. Wie hielt man einen Schatten fest? Sie machte eine Handbewegung, als pflücke sie eine Frucht. So einfach ging das offenbar.
In anderen Antworten wimmelte es von mir unverständlichen Begriffen der Fae. Wenn Felurian diese Begriffe erklären wollte, verwendete sie blumige Wendungen, aus denen ich auch nicht schlau wurde. Manchmal hatte ich das Gefühl, es mit einer ruhigeren und attraktiveren Version Elodins zu tun zu haben.
Einiges erfuhr ich immerhin. Die Arbeit mit dem Schatten hieß »Grammarie«. Auf meine Frage sagte sie, Grammarie sei »die Kunst, Dinge zu schaffen«, im Unterschied zur Glamourie, der »Kunst, Dinge scheinen zu lassen«.
Ich erfuhr auch, dass es bei den Fae keine Himmelsrichtungen in unserem Sinn gibt. Unser Trimetallkompass ist dort so unnütz wie eine blecherne Schamkapsel. Es gibt kein Norden. Und wenn am Himmel ewiges Dämmerlicht herrscht, kann man die Sonne auch nicht im Osten aufgehen sehen.